AFGHANISTAN

Zurück-, aber nicht angekommen: Erfahrungen aus Afghanistan

Die Annahme, Menschen würden freiwillig in das gefährlichste Land der Welt zurückehren, hält der Realität nicht stand. Was Rückkehrer:innen zudem oft unterschätzen, sind die besonderen Risiken, denen sie wegen ihres Aufenthalts in Europa ausgesetzt sind und die eine (Re)Integration in der Regel unmöglich machen.  Egal wie umfangreich Rückkehrhilfen wären – an diesen strukturellen Gefahren können sie nichts ändern.

von Abdul Ghafoor, Direktor und Gründer von Afghanistan Migrants Advice and Support Organization (AMASO), eine unabhängige Beratungsorganisation für Rückkehrer:innen in Kabul, die wegen des Einmarsches der Taliban im August 2021 schließen musste. Abdul Ghafoor, wie viele andere in extremer Gefahr, schaffte es in das erste deutsche Evakuierungsflugzeug zu gelangen, und ist nun in Deutschland.

Aus Deutschland sind 2019 und 2020 insgesamt 528 Menschen im Rahmen von Programmen zur Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ausgereist. Die Gründe sind sehr unterschiedlich. Da sind jene, die von ihren Familien zurückgerufen werden, um Angehörigen akut benötigte Unterstützung zu geben. Das kann zum Beispiel die Verteidigung der Familie gegen feindliche Milizen sein, es kann der alltägliche Schutz von Frauen und Kindern sein, weil männliche Verwandte verstorben sind, die bislang hierfür verantwortlich waren. Es gibt aber auch Rückkehrer:innen, die es nicht ertragen, der sterbenden Mutter den Wunsch nach einem letzten Treffen auszuschlagen.

Dann gibt es die, die nicht mehr daran glauben, dass sie in Europa jemals eine Perspektive haben werden. Sie haben zum Beispiel die Zuversicht verloren, jemals legal arbeiten zu dürfen, um ihre Familien in Afghanistan, Pakistan oder Iran versorgen zu können. Die langen Jahre des Wartens und die permanente Angst, selbst – wie so viele andere – von einer Abschiebung betroffen zu sein, lässt viele Geflüchtete die Hoffnung aufgeben. Bei manchen stellt sich nach der Rückkehr heraus, dass sie schlicht falsch beraten waren oder nicht wussten, wie sie ihre Rechte hätten durchsetzen können. Andere glaubten fälschlicherweise den behördlichen Aussagen, von einer Abschiebung bedroht zu sein. Viele verlassen Europa jedoch auch, um einer tatsächlich drohenden Abschiebung zuvor zu kommen. Allein in Deutschland sind mehr als 29.000 Afghan:innen akut bedroht.

Es gibt auch Rückkehrer:innen, die erst von ihren Anwält:innen erfahren, dass sie einer „freiwilligen“ Ausreise zugestimmt haben. Sie wussten nicht, dass Behörden sie eine Einwilligungserklärung haben unterschreiben lassen, ohne sie über den Inhalt aufzuklären. Und es gibt jene, die gesagt bekommen, sie könnten nur eine Arbeitserlaubnis erhalten oder mit ihrer Ehefrau in Europa zusammenleben, wenn sie dies nach einer  Rückkehr in Afghanistan durch ein Visumsverfahren beantragen. Es gibt auch Berichte über Sterbenskranke, die bei ihren Familien in der Heimat sein wollen, wenn es soweit ist. Doch diejenigen, die im Sinne einer freien Entscheidung zwischen möglichen Alternativen tatsächlich freiwillig zurückkehren, sind eine sehr kleine Minderheit.

Erfahrungen mit Rückkehr

Die unterschiedlichen Gründe für eine Ausreise zeigen sich auch an den Plänen der Betroffenen nach der Ankunft in Afghanistan. So verlassen viele gleich wieder das Land, um zu ihren in Nachbarländern wie Iran oder Pakistan lebenden Familien zu gehen. Den afghanischen Rückehrer:innen aus Europa droht dort jedoch die Verwehrung eines offiziellen Aufenthaltsstatus und die Abschiebung nach Afghanistan. Oft kehren Betroffene zurück in der Hoffnung, zum Geldverdienen in Länder wie Türkei oder Dubai aufzubrechen, oft auch mit dem Plan, erneut nach Europa zu fliehen, und in der Hoffnung, beim zweiten Mal mehr Erfolg zu haben. Andere haben den Auftrag, Angehörige auf der Flucht zu begleiten. Wieder andere gehen in die Nachbarländer, um von dort Visaanträge nach Europa zu stellen.

Diejenigen aber, die bleiben, weil sie die Hoffnung haben, sich in ihrer Heimat weniger ausgeliefert und ohnmächtig zu fühlen als in Europa oder vor Ort ihren Angehörigen besser helfen zu können, machen sehr ähnliche Erfahrungen: Eine der häufigen ist es, dass es angesichts der de-facto-Unfreiwilligkeit der Rückkehr in der Wahrnehmung der afghanischen Bevölkerung keinen Unterschied zu tatsächlichen Abschiebungen gibt. Ob (un-)freiwillig oder zwangsweise zurück: Man hat es nicht geschafft, einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Europa zu bekommen. Damit hat man die Erwartungen der Familie enttäuscht. Diese Erwartungen sind umfassend: Man hat nicht nur die Familie sowohl aus der Ferne als auch vor Ort finanziell zu unterstützen. Auch Nachbar:innen und weiter entfernten Verwandten  muss geholfen werden, sei es in Notfällen oder bei Visaverfahren. Es gibt wenig Verständnis dafür, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden. Rückkehrer:inenn werden deshalb oft als Versager:innen wahrgenommen. Das gilt selbst für diejenigen, die von ihren Familien zurückgerufen werden. Denn wären sie erfolgreich gewesen, könnten sie ja jederzeit nach Europa zurückkehren oder ihre bedrohten Ehefrauen und Kinder nach Europa holen. 

Was viele Rückkehrer:innen zudem eint: Sie unterschätzen, was es bedeutet, in das inzwischen gefährlichste Land der Welt zurückzukehren. Die Wahrscheinlichkeit, Anschläge oder öffentliche Schießereien zu erleben, die große Zahl gezielter Ermordungen, die Alltäglichkeit und Brutalität krimineller Überfälle, die Menge an Checkpoints, die Allgegenwart von Waffen, die Angst vor Kämpfen auch an Orten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif und die immer größere Macht der Taliban – all das können sich selbst diejenigen kaum vorstellen, die in Afghanistan aufgewachsen sind. Zudem unterschätzen viele, wie gefährlich ihr zwischenzeitlicher Aufenthalt in Europa ihnen in Afghanistan werden kann. Oft merkt man ihnen an, dass sie in Europa gelebt haben, weil sie sich anders verhalten und reden. Das bringt sie in Gefahr, für „verwestlicht“ gehalten zu werden. Zusammen mit dem Misstrauen, Exil-Afghan:innen hätten sich in Europa nicht an religiöse und kulturelle Regeln gehalten, führt das dazu, dass viele von Verwandten und Nachbar:innen als Ungläubige betrachtet und verstoßen werden.

Eine weitere Gefahr besteht darin, von den Taliban als „Spione“ oder „Verräter“ verfolgt zu werden, schließlich hat man bei den westlichen Besatzer:innen Schutz gesucht und oft weiterhin Kontakt mit Ausländer:innen. Weil diese Ächtung auch ein Risiko für die Familie und andere Kontaktpersonen bedeutet, gehen selbst wohlwollende Familien oft nicht das Risiko ein, Rückgekehrte aufzunehmen und zu unterstützen. Auch ich werde aufgrund meiner Unterstützung für Rückkehrer:innen aus Europa in der Nachbarschaft und von den Taliban akut bedroht. Schon mehrfach musste ich mit dem AMASO-Büro umziehen und bemühe mich deshalb, dass der neue Ort nicht bekannt wird.

Ohne familiäre oder andere Unterstützung haben die Rückkehrer:innen aber nicht nur keine Chance, Arbeit und Obdach oder Schutz vor alltäglicher Gewalt oder Verfolgern zu erhalten. Auch einfach behandelbare Krankheiten können ohne Hilfe schnell zu einer tödlichen Bedrohung werden, wenn man niemand hat, der:die sich um einen kümmert. Oft dauert es nur Tage oder Wochen, bis „freiwillige“ Rückkehrer:innen verzweifelt zu AMASO kommen, weil sie ihre Entscheidung bereuen und auf der Suche nach einem Ausweg aus Afghanistan sind.

Reichweite von Rückkehrhilfen

Rückkehrhilfen wie jene über REAG/GARP (Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany/Government Assisted Repatriation Program) oder ERRIN (European Return and Reintegration Network) können im besten Fall kurzzeitig einen Unterschied machen. Viele Rückkehrer:innen haben oft falsche Erwartungen. Sie gehen aufgrund der Beratung, die sie in Deutschland erhalten haben, davon aus, dass sie Arbeit bekämen. Doch schon vor dem wirtschaftlichen Einbruch durch die Corona-Pandemie lebten 93 Prozent der Bevölkerung in Afghanistan in extremer Armut und 30,5 Millionen sind akut auf Unterstützung angewiesen. Wer keine engen Beziehungen zu Arbeitgeber:innen hat, der:dem bieten auch praktische Hilfen beim Schreiben von Lebensläufen oder Trainings durch IRARA (International Returns and Reintegration Assistance) oder die NGO AWARD (Afghan Women Association for Rehabilitation and Development) im Auftrag der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) keine Aussicht auf eine Anstellung.

Die Qualifikationen, die Rückkehrer:innen in Deutschland erworben haben, sind wiederum erfahrungsgemäß nicht mit dem afghanischen Arbeitsmarkt kompatibel. Und die Beziehungen, die es bräuchte, um eine Chance auf existenzsichernde Arbeit zu haben, haben Rückkehrer:innen oft nicht (mehr). Schon 2017/18, also lange bevor der Arbeitsmarkt durch die Corona-Pandemie eingebrochen ist, wurde nach Auskunft der deutschen Bundesregierung kein:e „freiwillige:r“ Rückkehrer:in in Arbeit vermittelt.

Doch auch die finanziellen Hilfen, die Rückkehrer:innen vor der Ausreise und vor Ort in Afghanistan durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) im Rahmen von REAG/GARP bekommen, bieten keine Integrationsperspektive. Einige waren, weil man bei ihnen Geld vermutete, von Raub und Erpressung betroffen. Für viele reichten die Hilfen gerade aus, um Schulden von der Flucht zu begleichen und damit die Gefahr durch Kreditgeber für sich und ihre Familien abzuwenden. Bei anderen wird das Geld von den Familien dafür verwendet, akute Notlagen abzuwenden. Grundsätzlich betrachten Familien den Besitz von Rückkehrer:innen als kollektives Eigentum. Solange weitere Mittel zu erwarten waren, bedeutete dies denn auch für so manchen temporären Schutz durch Angehörige – doch eben auch nicht länger.

Dieses Muster zeigt sich auch bei den als Sachmittel deklarierten Hilfen durch das ERRIN-Programm der EU, das durch die Organisation IRARA implementiert wird. Formelle Herausforderungen sind hier, dass die Betroffenen finanziell in Vorleistung gehen und es für die Beantragung Partner:innen braucht, die als Vermieter:innen oder Geschäftspartner:innen auftreten und – wie nur wenige Afghan:innen – ein Konto besitzen, auf das diese Gelder eingezahlt werden. Sofern es jemanden in der Familie gibt, der:die diese Voraussetzungen erfüllt, hat ein solcher Antrag insofern Aussicht auf Erfolg, als dass Betroffene hoffen können, solange vor Ort geduldet zu werden, bis die Gelder eingetroffen sind. Wer allerdings keine Familie im Land hat oder von dieser bedroht wird, hat auf diese Hilfen keinen Zugriff. Außerdem ist das Antragsverfahren so kompliziert, dass Betroffene oft mehrere Hundert Euro an Vermittler:innen bezahlen müssen.

Perspektiven

Zu einer Integration führen Rückkehrhilfen erfahrungsgemäß nicht. Rückkehrer:innen lässt das oft kaum eine andere Wahl, als erneut zu migrieren. Sie bereuen die Rückkehr und dass sie sich in einer verzweifelten Situation dazu haben überreden lassen. Auch aus deutschen Mitteln finanzierte psychosoziale Beratung, wie sie Rückkehrer:innen in fünf Sitzungen durch die Internationale Psychosoziale Organisation (IPSO) angeboten wird, ändert an dem Kreislauf aus Gewalt und Not nichts. Angesichts der zu erwartenden Machtübernahme der Taliban und der weiteren Eskalation der humanitären Not ist fraglich, ob eine Integration für Rückkehrer:innen aus Europa in absehbarer Zeit möglich sein kann.

Bisher zumindest hatten nur jene eine Chance auf Integration, die über einen andauernden Aufenthaltsstatus die Möglichkeit der Rückkehr nach Europa hatten, und dadurch nicht nur einen besseren gesellschaftlichen Status, sondern auch den damit einhergehenden Schutz in Afghanistan genossen. Das von der Bundesregierung stark beworbene Rückkehrprogramm „Perspektive Heimat“ hilft hingegen kaum, da die darüber Zurückkehrenden auf ihren Schutzstatus in Deutschland verzichten müssen und gezwungen sind, bei Wiedereinreise die gesamte Unterstützungsleistung zurückzuzahlen.

„Die Rückkehrer und ihre tiefsitzende Verbitterung sind eine bedeutende Quelle der Destabilisierung Afghanistans. Sie sind empfänglich für Rekrutierungsversuche durch terroristische Gruppierungen und kriminelle Netzwerke.“

Hadi Marifat ist Geschäftsführer der medico-Partnerorganisation AHRDO und Mitautor der Studie „Deportation to Afghanistan: A Challenge to State Legitimacy and Stability. AHRDO/medico international 2019

„Wie kann eine Rückkehr in ein Land wie Afghanistan, das geprägt ist von Krieg und Gewalt, freiwillig sei? Nur mit der Möglichkeit, jederzeit wieder in ein geschütztes Land ausreisen zu können, kann ich mir vorstellen, dass eine Reise nach Afghanistan auf Freiwilligkeit beruht. Alles andere gleicht einer Abschiebung.“

Eva Bitterlich setzt sich in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in Afghanistan, Sri Lanka und Westsahara bei medico international für Menschenrechte ein.