IRAK

Zurück im Irak, zurück in Perspektivlosigkeit

Die Republik Irak und die kurdische Autonomieregion im Nord-Irak sind die Länder, in die die meisten Migrant:innen aus Deutschland „freiwillig“ ausreisen. Die Rückkehrprogramme ermöglichen es jedoch nur in Ausnahmefällen, sich vor Ort eine stabile und sichere Existenz aufzubauen. Die politischen und wirtschaftlichen Ursachen für die Migration nach Europa bestehen fort.

von Julian Toewe, Sozialwissenschaftler, lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

Es mutet paradox an. Der Irak und insbesondere die kurdische Autonomieregion im Nord-Irak sind in den letzten Jahren zum zweit häufigsten Herkunftsland von Geflüchteten geworden, die in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben. Laut dem Jahresbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stellten allein im Jahr 2019 13.742 irakische Flüchtlinge einen Asylerstantrag in Deutschland, wovon mehr als zwei Drittel aus dem Nord-Irak stammten.

Zugleich kehren aber auch in kein anderes Land so viele „freiwillige“ Rückkehr:innen zurück wie in den Irak. Von den rund 13.000 Personen, die im Jahr 2019 das Programm „Perspektive Heimat“ und seine auch als „geförderte Rückkehr“ bezeichneten Maßnahmen in Anspruch genommen haben, hatten mit 13 Prozent die meisten die irakische Staatsangehörigkeit. Wie ist es zu erklären, dass so viele Menschen aus dem Irak und Nord-Irak fliehen und ein relativ großer Teil wieder „freiwillig“ zurückkehrt?

Faktisch zwei Staaten: Irak und Nord-Irak

Nicht erst seit dem Sturz des irakischen Präsidenten Saddam Hussein durch den Irak-Krieg im Jahr 2003 steht die Republik Irak im Zentrum vielfältiger Interessen anderer Staaten. Das Land ist durch hohe Instabilität und eine faktische politische und gesellschaftliche Zweiteilung des Staatsgebietes gekennzeichnet: Während der Zentralirak mit den großen Städten Bagdad und Basra sowie den meisten Erdölvorkommen unter Einfluss der islamischen Republik Iran steht, orientiert sich die politische Führung der kurdischen Autonomieregion im Norden sehr stark an den NATO-Staaten, allen voran der Türkei, den westeuropäischen Staaten und den USA.

Die kurdische Autonomieregion zeichnet sich im Gegensatz zum Rest des Landes durch eine gute und stabile Sicherheitslage nach Ende der Territorialherrschaft des sogenannten Islamischen Staat (IS) aus. Zu den Kennzeichen des Nord-Iraks gehört weiterhin, dass er selbst politisch und verwaltungstechnisch zweigeteilt in ein östliches und ein westliches Gebiet ist, die sich die beiden herrschenden Parteien KDP und PUK untereinander aufgeteilt haben.

Dass die Bewohner:innen des Nord-Iraks nicht unbedingt Angst um ihr Leben haben müssen, war vor wenigen Jahren noch anders. Auf dem Höhepunkt ihrer territorialen Ausdehnung im Jahr 2016 kontrollierte die fundamentalistische Miliz IS weite Teile des Nordens des Irak und drang bis in die Gebiete der kurdischen Autonomieregion vor. Die Jesid:innen, die dem Völkermord durch den IS entkamen, suchten wie Millionen weitere Binnenvertriebene in anderen Landesteilen und der Autonomieregion Schutz. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR gab es im Jahr 2019 noch immer knapp 1,5 Millionen Binnenvertriebene.

Darüber hinaus lebten rund 280.000 Geflüchtete aus anderen Ländern im Irak, vor allem aus dem Nachbarland Syrien. Insbesondere aus dem kurdisch dominierten Nord-Irak flohen damals auch viele Menschen ins Ausland. So stellten auf dem Höhepunkt der Flucht vor dem IS im Jahr 2016 knapp 100.000 Iraker:innen einen Asylantrag in Deutschland. Dass es stichhaltige Gründe für die Flucht aus dem Irak bzw. Nord-Irak gibt, erkennt selbst das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an: Bei mehr als 50 Prozent der inhaltlich behandelten Asylanträge von irakischen Staatsangehörigen im Jahr 2019 wurde ein Schutzstatus beschieden.

Fluchtursache Perspektivlosigkeit

Dass auch weiterhin viele Iraker:innen nach Europa fliehen, bestätigt Karin Mlodoch, die seit vielen Jahren als Projektkoordinatorin des im Irak und Nord-Irak tätigen entwicklungspolitischen Vereins HAUKARI arbeitet. Sie sieht als Hauptgrund für die Flucht vieler, vor allem junger Menschen weniger die ökonomische Lage als die Perspektivlosigkeit angesichts jahrzehntelanger Gewalterfahrungen, anhaltender Konflikte (auch der IS ist keineswegs besiegt, sondern erstarkt gerade wieder) sowie Korruption und Machtmissbrauch in der politischen Elite.

„Wer keine engen Kontakte zu den regierenden Parteien hat, erfährt im Umgang mit staatlichen Institutionen Ohnmacht und hat kaum die Möglichkeit, eigene Lebensperspektiven zu entwickeln“, so Mlodoch. Das deckt sich mit den Erfahrungen der Iraker:innen, die am Programm „Perspektive Heimat“ teilgenommen haben und die wir für Rückkehr-Watchinterviewt haben. Sie berichteten von entwürdigender Behandlung durch staatliche Institutionen, weit verbreitete Korruption und mangelnder Rechtsstaatlichkeit, insbesondere im Handeln von Verwaltungsapparaten. Auch der Arbeitsmarkt sei von Klientilismus geprägt. Hinzu kommt die äußerst schwierige ökonomische Situation.

Rassismus und restriktives Asylsystem als Rückkehrgründe

In Deutschland machen viele irakische Asylsuchende Erfahrungen mit Ausgrenzung und Missachtung, sagt Roza Kurdo. Die ehemalige Mitarbeiterin eines unabhängigen Flüchtlingsberatungszentrums in Norddeutschland hat zwischen 2015 und 2017 viele Iraker:innen zur „freiwilligen“ Rückkehr beraten: „Die Migrant:innen wollen nicht mehr als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Deswegen gehen sie zurück.“ Insbesondere die Aussetzung des Familiennachzuges für subsidiär Schutzberechtigte durch den Bundestag im Januar 2016 traf viele irakische Asylsuchende, die auf eine dauerhafte Bleibeperspektive und einen legalen Nachzug ihrer Familien gehofft hatten. „Danach kamen täglich bis zu 15 Personen zu unserer Beratung. Alle wollten nur noch zurück“, so Kurdo. Allerdings hätten sie als Rückkehrberater:innen keine Schulungen über die Situation in den Rückkehrländern erhalten und die Migrant:innen daher auch nicht wirklich über ihre Perspektiven dort beraten können: „Es ging nur darum, mit ihnen die Formulare auszufüllen.“

Ob sich seit 2017 etwas an der Beratungspraxis in Deutschland geändert hat, fragen wir Hajjaj Mustafa. Er ist Leiter des Reintegrationsprogramms beim European Training and Technology Centre (ETTC) in der nord-irakischen Hauptstadt Erbil. Die Nicht-Regierungsorganisation ist die Institution im Irak, die auf irakischer Seite mit dem Europäischen Rückkehrprogramm ERRIN kooperiert und für die europäischen Staaten die Reintegrationsmaßnahmen in den Herkunftsländern der Migrant:innen durchführt. Mustafa erzählt, dass es weiterhin Rückkehrer:innen gibt, die mit falschen Erwartungen an die Reintegrationsmaßnahmen zurückkehrten. Er führt dies auf den fehlenden Austausch zwischen den Rückkehrberater:innen in Deutschland und den Reintegrationshelfer:innen vor Ort zurück.

Was Mustafa noch mehr Sorgen bereitet, ist der wachsende Druck zur Ausreise, der auf die Migrant:innen in Deutschland durch die Ausländerbehörden generell und speziell in der Rückkehrberatung ausgeübt werde. In ihren Beratungsgesprächen bekämen die Menschen die immer restriktivere Asylpolitik deutlich zu spüren: „Die Rückkehrer:innen nehmen oftmals aus Angst und Verzweiflung die geförderte Ausreise in Anspruch, um nicht die gewaltvolle und traumatisierende Erfahrung einer Abschiebung zu durchleben oder sie ihren Kindern zu ersparen“, berichtet Mustafa weiter. Wenn die Menschen nicht wirklich freiwillig ausreisten, sei eine gelingende Reintegration kaum möglich.

Starthilfe-Förderung an den Bedarfen vorbei

Überhaupt ist eine erfolgreiche Reintegration ein äußerst komplexer Prozess, da sind sich alle Expert:innen einig. Ein Leitgedanke des Rückkehrprogramms ist, die Rückkehrer:innen bei dem Aufbau einer selbstständigen Erwerbsarbeit zu unterstützen. Allerdings gelingt es auch westlichen Staaten und Unternehmen seit Jahren kaum, die Wirtschaft in der kurdischen Autonomieregion zu modernisieren und einen Privatsektor aufzubauen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Rückkehrer:innen dank der Förderung zwar ein Geschäft oder einen kleinen Betrieb besitzen, aber selbst kaum an den langfristigen Erfolg ihres Business glauben.

Das liegt auch daran, dass die „Starthilfe“, die zum Beispiel die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) leistet, oft an den Bedarfen vorbeigeht. Und die Geldmittel pro Rückkehrer:in sind zu begrenzt, um damit wirklich ein tragfähiges Geschäftsmodell aufbauen zu können. Ein paar Tausend Euro reichen auch im Nord-Irak und Irak nicht. So ist sich die ehemalige Rückkehrberaterin Roza Kurdo, die selbst Rückkehrer:innen im Nord-Irak für eine Evaluationsstudie befragt hat, sicher: „Niemand, der oder die nun auf eigenen Beinen steht, hat dies durch die Rückkehrförderung geschafft.“ Für beruflichen Erfolg entscheidend seien vielmehr die finanzielle und soziale Unterstützung durch Familie und Freund:innen.

Hinzu kommt das Problem, dass die Rückkehrer:innen nur höchsten ein Jahr lang begleitet werden. Ob sich so schnell eine langfristige Lebensperspektive aufbauen lässt, bezweifeln nicht nur Expert:innen. Laut einer Evaluationsstudie zum Programm „Starthilfe Plus“ aus dem Jahr 2019, die das BAMF selbst in Auftrag gegeben hat, haben acht Monate nach ihrer Rückkehr nur 39 Prozent der befragten Rückkehrer:innen ein Beschäftigungsverhältnis und lediglich 15 Prozent können von ihrem Einkommen leben. Nicht einmal die Hälfte der Rückkehrer:innen sind mit ihrer Lebenssituation zufrieden, mehr als 60 Prozent denken über eine erneute Ausreise nach Deutschland nach.

Die Grenzen Freiwilliger Rückkehr

Nadia Mahmood wundert das alles nicht. Die feministische Aktivistin der medico-Partnerorganisation Aman beschäftigt sich schon seit langem mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der damit zusammenhängenden Jugendarbeitslosigkeit im Irak: „Die jungen Menschen sind so verzweifelt, dass sie unbezahlte Jobs machen, in der Hoffnung, irgendwann eine bezahlte Anstellung beim Staat zu erhalten. Wie soll es da die deutsche Regierung mit ein paar Tausend Euro pro Person schaffen, jungen Menschen hier eine dauerhafte Perspektive zu verschaffen?“ Wenn man gegen diese Situation politisch aufbegehre, wie es in den großen Protesten im Herbst 2019 geschehen sei, lebe man sehr gefährlich, berichtet Mahmood weiter. Erst vor kurzem, im Februar 2021, seien fünf junge politische Aktivist:innen auf offener Straße von Milizangehörigen hingerichtet worden.

In unseren Gesprächen mit Rückkehrer:innen und Expert:innen ist deutlich geworden, dass bei der Rückkehr vieler Teilnehmer:innen des Programms nicht von einer freiwilligen Ausreise gesprochen werden kann. Vielmehr haben die Menschen das Programm aufgrund mangelnder Bleibeperspektiven und aus Verzweiflung in Anspruch genommen. An den strukturellen Fluchtursachen und den persönlichen Fluchtgründen hat sich indes nichts geändert: Die desolate wirtschaftliche Situation, starre Geschlechterverhältnisse, politischer Autoritarismus und weitverbreitete Korruption bestehen fort. Anders als der Name des Programms „Perspektive Heimat“ suggeriert, finden Rückkehrer:innen keine Zukunftsperspektive.

„Bei dem Programm steht nicht das Wohlergehen der Menschen im Mittelpunkt. Es geht darum, dass möglichst viele Migrant:innen Deutschland wieder verlassen sollen. Das ist unehrlich gegenüber den Teilnehmer:innen des Programms und das möchte ich nicht unterstützen.“ 

Irakischer Geflüchteter und Übersetzer bei Asylverfahren, dem angeboten wurde als Reintegrationsscout zu arbeiten.

„Niemand, der oder die nach der Rückkehr auf eigenen Beinen steht, hat dies durch die Rückkehrförderung geschafft. Die entscheidende Reintegrationshilfe leisten die Familie und Freund:innen vor Ort.“

Roza Kurdo, ehemalige Rückkehrberaterin