„Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat gestern (4/06/2020) 179 Maliern, die in Niger blockiert waren, die freiwillige Rückkehr ermöglicht. Die Migranten warteten seit fast drei Monaten in den Transitzentren der IOM in Niamey und Agadez, weil wegen Covid-19 die Grenzen geschlossen sind.“ Diese Meldung klingt fast wie eine Rettung: Migrant:innen oder Geflüchtete sind in einer ausweglosen Situation gelandet, die Internationale Organisation für Migration (IOM) holt sie da raus und bringt sie in Sicherheit, zurück ins Herkunftsland, generös finanziert durch die Europäische Union (EU) im Rahmen der Gemeinsamen Initiative EU-IOM. So oder so ähnlich mag das in einigen Fällen sein und tatsächlich sind Geflüchtete oft dankbar für die Hilfe, die sie erfahren. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte.
Mali ist ein Land, das stark von Migration geprägt ist, Migration in alle Richtungen. Im Westen gehen junge Männer seit Beginn der Kolonialisierung zum Arbeiten nach Frankreich, seit rund 20 Jahren sind auch Spanien und Italien interessante Ziele. Es gibt malische Händler:innen in China und in den Golfstaaten. Die Maghrebstaaten, vor allem das wohlhabende Libyen, waren lange nicht allein Transit-, sondern auch wichtige Zielstaaten für die Migration aus Mali. In Kongo-Brazzaville gibt es Tausende Migrant:innen aus Mali und anderen Staaten Westafrikas. Und in den Nachbarstaaten, insbesondere der Elfenbeinküste, Senegal, Mauretanien oder auch Burkina Faso, ist schwer zu sagen, wer woher kommt und wo wohnt. Ethnien leben über Grenzen hinweg, Familien wechseln zwischen Bamako (Mali), Abidjan (Elfenbeinküste), Kayes (Mali), Nouadhibou (Mauretanien) oder Dakar (Senegal) hin und her.
Zugleich führen die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region zu einer wachsenden Zahl interner und internationaler Geflüchteter. Europa schließt die Grenzen, in Libyen herrschen verfeindete Milizen und verbreitete Rechtlosigkeit, Algerien und andere Staaten des Maghreb kämpfen mit Wirtschaftskrise und hoher Jugendarbeitslosigkeit. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten unterstützen Bemühungen, die Migration in Westafrika zu kontrollieren und einzuschränken. Die in den Staaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS ehemals existierende Bewegungsfreiheit wird kriminalisiert und reglementiert. Überall kommt die Pandemie erschwerend hinzu. Es sind keine guten Zeiten für Migration.
Und trotzdem: Migration ist immer noch der Weg, um Stagnation, Perspektivlosigkeit, dem allgegenwärtigen Mangel zu entfliehen. Es gibt Beispiele gelungener Migration und Rückkehr. Geschichten und Schlager erzählen von denen, die es geschafft haben – und von den anderen, den „Losern“ eben. Eine Rückkehr mit leeren Händen ist nicht nur gesellschaftliche Schmach, sondern auch ein wirtschaftliches Scheitern, von dem sich nur wenige erholen. Viele haben sich Geld geliehen, die Familie hat Grund oder Vieh verkauft, um die Reise zu ermöglichen. Nun kommt man zurück und alle stehen vor dem Nichts. Das prekäre Leben in Mali ist noch ein bisschen prekärer geworden. Viele halten die Vorwürfe und den Spott der Familie nicht aus und flüchten in die Städte, wo sie als Fremde im eigenen Land leben.
Joint Venture fürs Dableiben
Auf der Seite zur „Freiwilligen Rückkehr“ der IOM wird man von einem gelungenen Beispiel erfolgreicher Reintegration zum nächsten geleitet. Mit der Gemeinsamen Initiative EU-IOM besteht seit 2016 ein von der EU finanziertes, auf zahlreiche afrikanische Staaten ausgeweitetes Programm. Es soll Migrant:innen, die auf dem Weg in Richtung Europa gestrandet sind, bei der Rückkehr ins Herkunftsland und der anschließenden wirtschaftlichen Reintegration unterstützen. Ähnlich wie andere Programme zur Förderung von Rückkehr und Reintegration funktioniert auch die „Joint Initiative“ eher schlecht.
Gemeinsam ist den Rückkehrprogrammen eines: Sie sollen verhindern, dass Rückgekehrte sich wieder auf den Weg machen. Deshalb wird die Unterstützung konsequent nur in Sachmitteln und nur nach der Rückkehr gewährt. Wer also einen Schneiderladen eröffnen möchte, muss einen Laden finden, muss eine Nähmaschine und weiteres Gerät kaufen, Stoffe, Schnittmuster, Strom und eine Vielzahl kleiner Dinge, die für den Laden gebraucht werden. All das muss zunächst besorgt und dann der IOM (oder anderen Büros etwa der französischen Migrationsbehörde OFII) vorgelegt werden (als Mietvertrag, als Quittung für Material oder Rechnung für den Strom), dann erst erfolgt eine Erstattung.
Man ahnt es schon: viel Bürokratie, lange Wartezeiten bis zur Erstattung, die nicht immer tatsächlich erfolgt. Wer nicht über eigene Mittel verfügt, kommt an solche Art von Hilfe nicht heran. Das eigene Unternehmen gerinnt zum leeren Versprechen der Rückkehrindustrie. Die schönen Bilder gelungener Rückkehrprojekte vermitteln einen schönen Schein für europäische Geldgeber, doch die Wirklichkeit in Mali und anderswo sieht anders aus. Auch wer mit Förderung der IOM zurückkehrt, landet im Elend zu Hause.
Allenfalls ein bisschen Erfolg darf sein
Die Agenturen und Organisationen, welche „freiwillige“ Rückkehr fördern, stehen ebenfalls vor einem Dilemma. Sie sollen im Auftrag der EU Anreize setzen, um Migrant:innen zur Rückkehr zu bewegen. Aber die Anreize dürfen nicht so groß sein, dass sich vielleicht neue Migrant:innen auf den Weg machen. Rückkehrförderung soll also zum Erfolg verhelfen, aber nur ein bisschen. So leistet das „Joint Venture EU-IOM“ in der Hauptsache den Transport von Migrant:innen aus ausweglosen Situationen in Libyen, Mauretanien oder Niger, und hält so einen Teil der Migrant:innen davon ab, in die gefährlichen Boote nach Europa zu steigen. Wenn das Rückkehrprogramm ein Feigenblatt für die Abwehrpolitik Europas sein soll, dann ist es ein sehr kleines Feigenblatt. Die Attraktivität des Programms ergibt sich nicht aus einer guten Ausstattung und echten Förderung, sondern aus der Alternativlosigkeit.
Die EU unterstützt nach wie vor die sogenannte libysche Küstenwache, die verhindert, dass Boote nach Europa ablegen oder Geflüchtete auf dem Mittelmeer abfängt und in libysche Folterlager zurückbringt. In Libyen, aber auch Algerien oder Niger, ist es dann die IOM, die ein Angebot macht, das man nicht ablehnen kann. Wenn der Weg nach vorne versperrt ist, wenn im Transitland bestenfalls Lager und Gefangenschaft drohen, dann ist die Rückkehr ins Herkunftsland viel weniger eine freiwillige Entscheidung als eine Frage des Überlebens. Der Erfolg der Rückkehrprogramme ist nicht, dass Rückkehrer:innen Erfolg haben sollen. Das Programm ist erfolgreich, wenn diese Migrant:innen nicht mehr nach Europa wollen oder, weil sie auch keine Mittel dazu haben, nicht mehr können.
Mamadous Traum
Um die Dürftigkeit europäischer Rückkehrförderungen zu begreifen, muss man nach Beispielen erfolgreicher Rückkehr suchen. Es gibt Rückkehr, die wirklich freiwillig ist, es gibt auch freiwillige Rückkehr, die erfolgreich ist, auch und vor allem in einem Land mit Migrationstraditionen wie Mali. Einer, der sein in Frankreich verdientes Geld klug in ein paar Grundstücke und in ein Mietshaus in der malischen Hauptstadt Bamako investiert hatte, konnte mit den Einnahmen daraus weitere Häuser bauen und schließlich seinen Traum, Silberhändler auf dem Grand Marché in Bamako zu werden, erfüllen. Mehr Statusgewinn geht kaum in dieser Gesellschaft. Solche Beispiele gibt es einige, von Fußballern und Popstars nicht zu reden. Diese verbringen aber oft mehr Zeit in Paris als in Bamako. Mamadou Diakité ist ein Mann, der Idol einer ganzen Vereinigung junger Malier ist, die von Marokko, Algerien oder Europa abgeschoben wurden, aus ähnlich auswegloser Situation wie die „freiwilligen“ Rückkehrer:innen aus Niger heute. Die jungen Leute gründeten nach der Abschiebung einen Verein der Abgeschobenen aus dem Bezirk Yanfolila (Association des Jeunes Réfoulés du Cercle Yanfolila), um gemeinsam für Anerkennung und auch eine Unterstützung bei der Reintegration zu kämpfen, mit wenig Erfolg.
Mamadou lebt auf dem Land im Süden Malis. Von der Provinzstadt Yanfolila fährt man rund 20 Kilometer mit dem Moped in Richtung Grenze zu Guinea, dann liegt abseits des Pfades eine flache Hütte mit ausladendem Schattendach. Auf Planen ist die Ernte aufgeschüttet, ein Berg Maiskörner, ein ebenso großer Berg Hirse, sehr stolz ist Mamadou auf die gute Ernte. Unter dem Dach erzählt er seine Geschichte. Er kommt aus Kayes, aus dem Westen Malis. Wie sehr viele jungen Leute von dort ging er nach Frankreich und arbeitete dort in einer Fabrik. Nach zwei Jahren zog er in die Schweiz, fing dort in einem Hotel an, arbeitete sich hoch bis zum Manager. Er sparte, hatte ein gutes Gehalt und entschied sich mit gut 50 Jahren heimzukehren. Er wollte nicht in einem Hotel in der Fremde enden, er wollte daheim Landwirtschaft betreiben, da dürfe man nicht zu alt sein. Also suchte er sich Land im Süden Malis. Er hat Büffel für die Feldarbeit angeschafft und bezahlt junge Arbeiter aus dem Dorf. Er hat ein Haus in Yanfolila, ein weiteres in der Hauptstadt Bamako. Mamadou geht es gut, die Ernte wirft genug ab. Als ich ihn traf, war er kurz vor dem Rentenalter. Als Rentner wird er monatlich 1.500 Franken Rente aus der Schweiz erhalten.
Die jungen Leute, die sich zur Vereinigung der Abgeschobenen aus dem Bezirk Yanfolila zusammengetan haben, sind unterschiedlich hart gefallen nach der Abschiebung, die wie bei den heutigen Gestrandeten aus Niger mit dem Bus oder Flugzeug stattfand. Manche haben mehr Schulden, als sie in ihrem Leben abbezahlen können, andere sind dabei, langsam wieder auf die Füße zu kommen. Nicht viel anders als diesen Abgeschobenen geht es den „freiwilligen“ Rückkehrer:innen heute. Auch diese jungen Leute hatten Kontakt zu einem staatlichen Programm, das Rückkehrer:innen unterstützen sollte, aber es wurde viel versprochen und wenig geliefert. Da hat sich bis heute nichts geändert.
Wer zurückkehrt, ohne Erfolg, vielleicht mit den mageren Mitteln der IOM, landet fast immer dort, wo er oder sie aufgebrochen ist: in einer Situation, in der Prekarität jede Bewegung lähmt, wo Armut, Krankheit, Unglück nah beieinanderstehen. Die Europäische Union, ihre Mitgliedsstaaten und die IOM wollen diese Immobilität. Migration, vor allem die nicht autorisierte, darf nicht erfolgreich sein, Rückkehr soll nicht die Möglichkeit eröffnen, wieder aufzubrechen. Obwohl Migration immer schwieriger und gefährlicher wird, bleibt mit ihr deshalb doch die Hoffnung verbunden, dieser Lage zu entfliehen.
„Die Menschen werden teilweise belogen und erpresst, damit sie zurückgehen. Darin liegt eine große Gefahr. Von ‚freiwilliger‘ Rückkehr kann man nur dann sprechen, wenn keine ‚Sensibilisierung‘ und keine ‚Aufklärungskampagne‘ gemacht wird, was manchmal einer Gehirnwäsche gleichkommt.“
Ousmane Diarra, Präsident der malischen Abgeschobenen-Selbstorganisation Association Malienne des Expulsés (AME)
„Umfassende politische Antworten müssen in vollem Umfang berücksichtigen, dass die ‚Reintegration‘ in vielen Fällen schwieriger ist als die anfänglichen Versuche der Menschen, sich in ihren Herkunftsländern ein Leben aufzubauen, sodass sie nach der Rückkehr eher mehr als weniger geneigt sein werden auszureisen.“
Jill Alpes, Autorin der Studie „Notfallrückführungen der IOM aus Libyen und Niger: Eine Schutzmaßnahme und Ursache neuer Schutzbelange?“