MAROKKO

Marokko: Mythos Reintegration

Trotz mancher Konflikte gilt die migrationspolitische Zusammenarbeit zwischen Marokko und Deutschland als vorbildlich. Im Kontext der Rückkehr ist vor Ort eine umfassende Reintegrationsinfrastruktur aufgebaut worden. Diese mag dazu beitragen, Rückkehrquoten zu erhöhen. Sie scheitert aber eklatant daran, den Menschen eine Perspektive zu ermöglichen.

von Salaheddine Lemaizi, freier Journalist in Casablanca, und Nina Violetta Schwarz, Migrationswissenschaftlerin in Berlin.

In Deutschland und der EU wird seit 2015 verstärkt an der Weiterentwicklung von Programmen zur Rückführung von Geflüchteten und Migrant:innen gefeilt. Im Rahmen entwicklungspolitischer Programmatiken und im Kontext der „Fluchtursachenbekämpfung“ verknüpfen sich Rückführungsmaßnahmen dabei zunehmend mit der Etablierung von (Re-)Integrationsstrategien im gesamten nordafrikanischen Raum und im Mittleren Osten.

Die Silvesternacht in Köln 2015/16 hatte den Trend zu verstärkten Rückführungen beschleunigt: Es war damals zu einer Vielzahl von sexualisierten Übergriffen auf Frauen gekommen, die zumeist Männern aus dem arabischen Raum zugeschrieben wurden. Das markierte einen Wendepunkt in den Konjunkturen des Rassismus in Europa: Seit diesem Ereignis ging es in vielen Debatten darum, dass (vor allem, aber nicht nur) straffällig gewordene Geflüchtete und Migrant:innen so schnell wie möglich in ihre „Heimatländer“ rückgeführt werden. Im September 2016 kam König Mohamed VI. von Marokko mit der Bundeskanzlerin zusammen, um „die Rückführung marokkanischer Staatsangehöriger in Deutschland“ voranzutreiben.

Trend zur Rückführung

Die Frage der Rückkehr und Rückübernahme von Marokkaner:innen aus Deutschland ist seit über zwei Jahrzehnten eines der Hauptthemen in den bilateralen Beziehungen. Für Deutschland gilt Marokko als vorbildlicher Partner der Region – zuverlässig und „bestrebt, die Steuerung der Migrationsströme zu optimieren und zu rationalisieren“, so die marokkanische Regierung selbst. Das Land steht auch immer wieder auf der Liste der möglichen „sicheren“ Herkunftsländer.

Nach 2015 trat die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Bereich Migration mehr und mehr auf den Plan und implementierte sowohl Programme zu regulärer Arbeitsmobilität zwischen Nordafrika und Europa, (Re-)Integrationspragramme wie „Merhaba-Willkommen in Marokko“ sowie die Initiative „Migration für Entwicklung“ (PME). Diese richtet sich sowohl an marokkanische Rückkehrer:innen als auch an Transitmigrant:innen im Land. PME ist Teil der Initiative „Perspektive Heimat“ und vermittelt über sogenannte Reintegrationsscouts von Deutschland aus direkt zu Partnerorganisationen im Herkunftsland – und damit auch zu den (Re-)Integrationsprogrammen der GIZ in Marokko.

Die Tendenz zu verstärkter Rückführung aus Deutschland und Europa, die sich in die seit 2013 verfolgte marokkanische Immigrationsstrategie einfügt, treibt viele Blüten: Vereine und Gruppen im Bereich Migration in Marokko berichten von „Schwärmen“ EU-europäischer Organisationen, die finanzielle Mittel und daran gebundene Projektleitlinien anbieten. Ganz oben auf der Agenda stehen integrative Maßnahmen für zumeist vulnerable, migrantische Gruppen, insbesondere zurückgekehrte, abgeschobene oder ausreisewillige Marokkaner:innen sowie Transitmigrant:innen auf dem Weg nach Europa.

Die Wurzeln dieser Dynamik finden sich in den aufgestockten Töpfen der Entwicklungszusammenarbeit zur sogenannten „Fluchtursachenbekämpfung“. Im Falle Marokkos wird damit letztlich das Ziel verfolgt, Weiterwanderung aus Drittstaaten südlich von Marokko in die EU zu verhindern sowie Rückführungszahlen aus der EU in den globalen Süden zu erhöhen.

Zusammenarbeit vorerst ausgesetzt

Während in Deutschland der Fokus auf Rückführung und Reintegration in die jeweiligen „Heimatländer“ liegt, finden sich in marokkanischen Behörden schwarz-rot-goldene Poster, die auf deutsch-marokkanische Projekte zu Rückkehrperspektiven hinweisen. Zuständig sind zum Beispiel die marokkanisch-deutschen Migrationsberatungsstellen (Espaces d’information maroco-allemand, EIMA) in den Nationalen Arbeitsagenturen (ANAPEC). Sie werden durch die GIZ und in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit etabliert und betrieben. Die Büros in Casablanca, Beni Mellal, Fez, Oujda und Tanger Beratungen sollen zu legaler Migration nach Deutschland, zum Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt, aber auch zu Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten in Marokko etwa nach der Rückkehr beraten.

Wie wirksam diese Angebote nach dreijähriger Laufzeit sind? Unsere Recherchen im Frühling 2021 fanden in angespanntem politischen Klima statt. Aufgrund politischer Differenzen zwischen Deutschland und Marokko war die marokkanisch-deutsche Kooperation zu Rückkehr und Reintegration ausgesetzt. Am 1. März 2021 forderte das marokkanische Außenministerium zunächst die marokkanischen „Ministerien (...) auf, alle Kontakte, Interaktionen oder Aktionen (...) sowohl mit der deutschen Botschaft in Marokko als auch mit den mit ihr verbundenen deutschen Kooperationsagenturen und politischen Stiftungen auszusetzen“.

Die Gründe für dieses diplomatische Zerwürfnis wurden von marokkanischer Regierungsseite nicht offiziell benannt. Inoffiziell ist zu vernehmen, dass es an den jüngst formulierten deutschen Positionen zum Westsahara-Konflikt läge. In diesem Zusammenhang steht auch der Rückruf der marokkanischen Botschafterin im Mai aus Deutschland. Die Zentren stehen also still. Wann die Zusammenarbeit wieder in vollem Umfang aufgenommen wird, ist derzeit unklar. Weder GIZ noch Bundesregierung äußern sich dazu öffentlich. In diesem Klima wurde uns auch von der ANAPEC eine aktuelle Evaluation zu den Migrationsberatungsstellen verweigert.

Nachdem am 17. Mai 2021 mehrere tausend Marokkaner:innen in die spanische Enklave Ceuta gelangten und sich viele andere Migrierende vor allem aus dem subsaharischen Afrika mit Schlauchbooten auf den Weg von Tanger zum spanischen Festland machten, ist das Verhältnis zwischen Marokko und der EU noch angespannter. Denn auch die zwischenzeitliche Aussetzung der vereinbarten Grenzsicherung gilt als Schachzug Marokkos in den Unstimmigkeiten mit der EU über den Westsahara-Konflikt. Das marokkanische Migrationsmanagement für die EU ist eng mit den geopolitischen Interessen Marokkos verknüpft. In diesem Rahmen agiert das Land als Europas „Türsteher“ und spielt je nachdem „die Migrationskarte“ so oder so aus. Wenn die Regierung wie aktuell migrationspolitische Maßnahmen von Zugeständnissen der EU hinsichtlich der Anerkennung der Westsahara als marokkanischem Staatsgebiet abhängig macht, verfolgt sie Interessen in einem ganz anderen politischen Konflikt.

Lückenhafte Evaluationen

Doch nicht erst seit den neuerlichen bilateralen Konflikten stagniert das deutsche Programm der Rückkehr und Reintegration. Schon länger zeigt sich, dass die Umsetzung und Nachhaltigkeit der Reintegration nur an zweiter Stelle stehen – für beide Länder. Auf marokkanischer Regierungsseite wird dies daran sichtbar, dass in öffentlichen Ansprachen zur Eröffnung der Zentren durch die ANAPEC-Verantwortlichen weniger der Reintegrationsaspekt von Rückkehrer:innen als vielmehr die Dimension der beruflichen Integration von Marokkaner:innen in Deutschland betont wird. Das überrascht nicht, da Wiedereingliederungshilfe für Rückkehrer:innen nicht zu den Hauptaufgaben der nationalen Arbeitsagentur gehören und in der Kooperation dazu eher „mitläuft“.

Im Jahr 2019 wurden in den Zentren laut ANAPEC 2.849 Beratungsgespräche geführt und 68 Informationsveranstaltungen mit 2.252 Klient:innen organisiert. Es wird jedoch nicht spezifiziert, ob es sich dabei um „freiwillige“ Rückkehrer:innen, abgeschobene Personen oder um Menschen in Marokko handelt, die sich über legale Migrationswege nach Deutschland informieren wollten. Insgesamt sind die Angaben sehr lückenhaft. So fehlen Daten zur Anzahl von Rückkehrer:innen, die im Rahmen konkreter Existenzgründungs-Projekte oder der generellen Reintegration in das Arbeitsleben begleitet wurden. Junge Arbeitssuchende kritisieren, dass es kaum Unterstützung oder gar erfolgreiche Arbeitsanbahnungen – weder durch EIMA noch ANAPEC – gibt.

Die Evaluierungen, aber auch das Auftreten der ANAPEC verdeutlichen, dass die Reintegration im Migrationsberatungszentrum die marokkanische Seite nur am Rande interessiert. Und welche Rolle spielt sie für die deutsche Seite? Wichtig erscheint vor allem, darauf verweisen zu können, dass es ein entsprechendes Angebot gibt. Ob es funktioniert und sich bewährt, ist sekundär. Denn wer hier vorstellig wird, hat Europa längst verlassen. Die Arbeit der Migrationsberatungszentren sind nicht einmal annähernd zufriedenstellend, weil sie auf einer politischen Entscheidung von 2016 fußen, die vor allem auf erfolgreiche Rückführungen zielen. Die sogenannte Fluchtursachenbekämpfung ist nicht mehr als ein schmückendes Label.

Rückführung und Reintegration durch IOM

Zusätzlich zu den oben erwähnten Rückkehrprogrammen hat die Internationale Organisation für Migration (IOM) seit 2018 ein eigenes Programm zur Freiwilligen Rückkehr von Deutschland nach Marokko aufgebaut. Deutschland ist, obwohl die Zahlen gering sind, unter den Top 5 der Länder, die das Programm in Anspruch nehmen, wie die Daten der IOM Marokko-Berichte zu „Assisted Voluntary Return and Reintegration in Morocco" in den Jahren 2018 und 2019 zeigen: Im Jahr 2018 sind mithilfe des IOM-Programms 16 Marokkaner:innen aus Deutschland zurückgekehrt, 2019 waren es 45 und in der ersten Hälfte des Jahres 2020 nach einer vorläufigen Einschätzung sechs.

Auch das Rückkehrprogramm der IOM verspricht finanzielle Unterstützung während der beruflichen Wiedereingliederung. Doch trotz der Expertise der UN-Agentur auf diesem Gebiet haben die IOM-Rückkehrer:innen Schwierigkeiten, ihre Projekte erfolgreich durchzuführen und abzuschließen. Diese werden durch die Covid19-Pandemie noch verstärkt, wie eine von IOM Marokko durchgeführte Umfrage unter Rückkehrer:innen zeigt. 97 Prozent gaben an, dass sie aufgrund des fehlenden Zugangs zum Arbeitsmarkt wirtschaftliche Schwierigkeiten haben. Mehr als jede*e zweite waren nicht in der Lage, die wirtschaftlichen Tätigkeit fortzuführen. Diese Zahlen zeigen die große Fragilität und geringe Wirksamkeit der Wiedereingliederungsprojekte.

EU Migrationskontrolle in Afrika

Das Ziel der Reintegration soll die optimierten Bedingungen für einen Neustart nach der Abschiebung oder „freiwilligen“ Rückkehr unterstreichen: Es geht um die Legitimation der Programme nach außen und darum, Betroffene zur Rückkehr zu bewegen. In der Realität vor Ort erweist sich „Reintegration“ als bloßer Euphemismus. Sie ist ein Instrument des Migrationsmanagements jenseits des europäischen Territoriums. Diese Technik der Förderung von Integrationspolitiken in EU-Anrainerstaaten erweitert und stabilisiert das EU-Grenzregime, das sich so sukzessive in den afrikanischen Kontinent vorverlagert. Es folgt dabei einer Logik, in der sich gewaltvolle Praktiken der Abwehr und Integrationsprogramme mit humanitärem Anstrich ergänzen. Damit wird ein System etabliert, das der Regulierung und Selektion an der Grenze dient und dafür längst nicht mehr nur auf Kontrollposten entlang geografischer Grenzen angewiesen ist.

„Die Migrationsberatungszentren und (Re)Integrationsprogramme der GIZ in Marokko stärken die auf Abschottung ausgelegte europäische Politik. Im Namen einer entwicklungspolitischen Mission verankern sie Migrationskontrolle und -abwehr im Sinne der EU in der marokkanischen Politik.“

Nina Violetta Schwarz koordiniert für medico international das Projekt Rückkehr-Watch.