ÄGYPTEN

Ägypten – Türsteher Europas

Ägypten gilt als zentraler strategischer Partner der EU im Bereich „Migrationsmanagement“, sprich zur Unterbindung unerwünschter Migration nach Europa. In Rahmen der Zusammenarbeit fließen auch Gelder in die Reintegration von rückkehrenden Ägypter:innen – mit zweifelhafter Wirkung.

Anonym

Ägypten ist mit fast 100 Millionen Einwohner:innen – Tendenz steigend – schon jetzt eines der bevölkerungsreichsten Länder auf dem afrikanischen Kontinent. Die Gesellschaft ist sehr jung, jede:r Dritte ist unter 16 Jahren. Doch die Hoffnungen vor allem der jüngeren Generation auf demokratischen Wandel, die mit dem Arabischen Frühling geweckt wurde, haben sich nicht erfüllt. Zehn Jahre nach dem breiten Aufstand und dem Sturz von Hosni Mubarak wird die Regierung in Kairo von Menschenrechtsorganisationen regelmäßig für ihr autoritär-repressives Vorgehen kritisiert.

Seit der Machtübernahme durch Präsident Abdel Fatah Al-Sisi werden immer wieder Oppositionelle und Aktivist:innen festgenommen, Tausende sitzen in Haft. Menschenrechte werden systematisch verletzt. Neben der politischen Restauration sorgt auch die wirtschaftliche Entwicklung für wachsende Perspektivlosigkeit: Mit dem drastischen Fall des ägyptischen Pfunds hat sich die ökonomische Situation für große Teile der Bevölkerung massiv verschlechtert. So ist es nicht verwunderlich, dass viele junge Ägypter:innen sich eine Zukunft außerhalb des Landes wünschen. Viele würden nichts lieber tun als nach Europa zu migrieren.

Mehr Sackgasse als Herkunftsland

Gleichzeitig lebt eine große Zahl von gestrandeten Geflüchteten und Migrant:innen in Ägypten. 2019 sollen es rund eine halbe Million Menschen gewesen sein, die meisten sind aus Syrien, Somalia, Sudan und den palästinensischen Gebieten gekommen. Zwar hat Ägypten die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, das zugehörige Protokoll von 1967 sowie die Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) von 1969 unterzeichnet. Doch es gibt Einschränkungen. So ist es für Geflüchtete in Ägypten nahezu unmöglich, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Zugang zum öffentlichen Schulsystem haben lediglich diejenigen aus Sudan, Syrien und Jemen.

Darüber hinaus bietet Ägypten keine Form der lokalen Integration auf gesellschafts-politischer Ebene. Es ist eine Politik der Nicht-Integration. Ramona Lenz von medico international erklärt im Interview mit der Deutschen Welle, dass sich die Situation für Geflüchtete im Land noch verschlechtert hat: „Die Regierung schützt die Flüchtlinge nicht, sondern trägt mit willkürlichen Verhaftungen und Deportationen zu dem Klima der Angst bei, indem sie in Ägypten leben müssen.“ Viele wenden sich angesichts von Unsicherheit und mangels Perspektiven an das UNHCR in der Hoffnung, über Resettlement ihrer Situation entkommen und in aufnahmebreite Länder ausreisen zu können.

Nach Europa gelangen nur wenige Ägypter:innen und Transitmigrant:innen aus Ägypten. 2016 soll von all denen, die über das Mittelmeer Griechenland, Italien oder Spanien erreicht haben, nur jede:r Zehnte an der ägyptischen Küste aufgebrochen sein. Die Gesamtzahl der Ägypter:innen, die sich in Richtung Europa aufgemacht haben, wird auf höchstens 5.000 geschätzt. Auch die Zahl der Asylanträge von Ägypter:innen in Deutschland ist niedrig, in den vergangenen Jahren lag sie stets unter 2.000, 2018 waren es lediglich 807. So zählt das nordostafrikanische Land für die Bundesregierung denn auch nicht zu den Hauptherkunftsländern der in Europa Schutz suchenden Menschen. Das hat nichts damit zu tun, dass die Menschen alle dort bleiben wollen. Vielmehr hindert die Politik sie daran zu gehen.

Gemeinsames „Migrationsmanagement“

Bereits seit Anfang 2000 gibt es regelmäßige Treffen zwischen Brüssel und Kairo zu Fragen der Grenzsicherung, des Migrationsmanagements und der Prävention undokumentierter Migration. Infolge des „Sommers der Migration“ 2015 ist die Zusammenarbeit auf Druck der EU noch deutlich intensiver geworden. Drei Beispiele: Im Rahmen des 2015 initiierten Treuhandfonds für Afrika (EUTF) stellte die EU Ägypten 60 Millionen Euro zur Verfügung, der größte Teil für den Ausbau des Grenz- und Migrationsmanagements. Gelder fließen auch in Ausbildungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramme, Maßnahmen zur sozialen Integration sowie Sensibilisierungskampagnen gegen irreguläre Migration. 2017 wurde die „Partnerschaftspriorität 2017–2020“ zwischen der EU und Ägypten verabschiedet, in deren Rahmen ein „Migrationsdialog“ die strategische Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten lenkt. 2019 dann wurde die von der GIZ geförderte und von Präsident Al-Sisi persönlich verkündete Kampagne „Survival Ships“ gestartet. Sie soll auswanderungswillige ägyptische Jugendliche durch Sensibilisierungskampagnen sowie die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten vor Ort von irregulärer Emigration abhalten.

In mancherlei Hinsicht arbeiten beide Seiten im Einvernehmen, stets aber auch in gegenseitigem Eigeninteresse eng zusammen. „Die Regierung unter Präsident Al-Sisi weiß um die Verhandlungsmacht, die ihr die Flüchtlinge im Land gegenüber Europa verschaffen“, so Ramona Lenz. „Sie versteht es, die Furcht Europas vor Flüchtlingen für sich zu nutzen. So präsentiert sie sich als verlässliche Partnerin Europas in der Migrationspolitik und sorgt dafür, dass kaum noch Flüchtlinge von Ägypten aus Richtung Europa aufbrechen können. Die Unterstützungsmaßnahmen der EU im Bereich der sogenannten Fluchtursachenbekämpfung dienen ihr dabei vor allem zur Bewältigung der eigenen Finanzkrise. Den Preis für diese Machtspiele zahlen die Geflüchteten, die nun in Ägypten festsitzen.“

Vor dem Hintergrund des autoritären Regierungsstils ist Ägypten um mehr internationale Legitimität bemüht. Gleichzeitig widersetzt sich das Al-Sisi-Regime immer mal wieder europäischen Forderungen und erinnert die EU so daran, wie sehr diese in der Steuerung der von Migration von Kairo abhängig ist. 2018 etwa lehnte Ägypten konsequent die Aufforderung der EU ab, Flüchtlingslager für aus Europa abgeschobene Migrant:innen zu errichten.

Steigende Abschiebezahlen

Die Zusammenarbeit bezieht sich nicht nur darauf, dass Ägypten Migration nach Europa unterbinden soll. Das Land soll Europa auch Geflüchtete und Migrant:innen abnehmen. So hat Brüssel viele Jahre lang darauf gedrängt, dass die ägyptische Regierung ein Gesetz für ein nationales Asylsystem erarbeitet. Ein solches würde der EU Verhandlungen über Rückführungen und Abschiebungen von über Ägypten nach Europa eingereiste Migrant:innen aus Drittstaaten erleichtern. 2019 hat Kairo angekündigt, in Zusammenarbeit mit dem UNHCR ein solches Asylsystem etablieren zu wollen.

Ungeachtet dessen hat sich die Zahl abgeschobener Ägypter:innen aus Deutschland in den vergangenen Jahren stetig erhöht. Wurden 2015 lediglich sieben Menschen nach Ägypten abgeschoben, waren es 2017 bereits 35 und 2019 67. Selbst im Pandemie-Jahr 2020 wurden 27 Menschen zwangsweise aus Deutschland nach Ägypten rückgeführt. Würde es nach der EU und Deutschland gehen, lägen die Zahlen noch deutlich höher. Tatsächlich hat die EU-Kommission im Frühjahr 2021 eine Liste von 13 Ländern vorgelegt, die bei der Rücknahme von eigenen Staatsbürger:innen aus der Europäischen Union nur „mangelhaft“ kooperieren würden. Auch Ägypten steht auf dieser Liste.

Türsteher ja, aber auch Rückaufnahmeland?

Neben der zwangsweisen Rückführung setzen die EU und die Bundesregierung in den vergangenen Jahren verstärkt auf Formen der „freiwilligen“, mit finanziellen Anreizen versehenen Ausreise. Zu diesem Zweck wurden zahlreiche Programme aufgelegt oder ausgebaut – von Rückkehrprogrammen wie REAG/GARP über Reintegrationsprogramme wie StarthilfePlus, Perspektive Heimat/Startfinder oder ERRIN bis zu Rückkehrvorbereitende Maßnahmen (RkVM): Alle sollen dazu beitragen, dass Ägypter:innen Europa „aus freien Stücken“ wieder verlassen.

Im Rahmen des BMZ-Programms Perspektive Heimat initiiert die deutsche Entwicklungshilfegesellschaft GIZ seit 2017 in vielen Ländern Zentren zur Re-Integration von Rückkehrer:innen, so auch in Ägypten. Das deutsch-ägyptische „Zentrum für Beschäftigung, Migration und Reintegration“ in Maadi, einem schicken und wohlhabenden Viertel Kairos, wurde im November 2020 zusammen mit der ägyptischen Regierung eingeweiht. Hauptaufgabengebiete ist die Re-Integration „freiwilliger“ Rückkehrer:innen und abgeschobener Ägypter:innen aus dem Ausland. Zudem sollen Jugendliche für den nationalen Arbeitsmarkt qualifiziert (und dadurch von einer Migration nach Europa abgehalten werden). Gleichzeitig soll das Zentrum über Möglichkeiten (und Unmöglichkeiten) zur legalen Einwanderung nach Europa informieren. Bislang haben nur wenige Menschen die Angebote des Zentrums wahrgenommen, allerdings waren viele Veranstaltungen und Beratungsangebote wegen der Covid-19-Pandemie ausgesetzt. Genaue Zahlen etwa über die Beratung von Rückkehrer:innen liegen nicht vor.

Ohnehin nehmen nicht sehr viele Menschen die Programme und Rückführungsangebote in Anspruch. Im Jahr 2017 sind 62 Ägypter:innen über das REAG-/GARP-Programm sowie 46 über das StarthilfePlus-Programm zurückgekehrt. Von diesen 46 haben, auch das ist bekannt, gerade einmal 22 in Ägypten die zweite Rate abgeholt bzw. erhalten. Ebenso unklar ist, inwiefern die Arbeitsbeschaffungs- sowie Reintegrationsmaßnahmen vor Ort durch internationale Organisationen wie die GIZ wirklich dazu beitragen, dass sich die Betreffenden eine stabile Existenz aufbauen können.

Man will es offensichtlich auch gar nicht genau wissen. So werden keine Langzeitanalysen durchgeführt und in die Evaluierung einbezogen werden lediglich die ersten drei Monate nach der Maßnahme. Angesichts der ohnehin geringen Zahlen und der ungesicherten Nachhaltigkeit stellt sich die Frage, was der ganze Aufwand soll. Der Gedanke liegt nahe, dass die Maßnahmen vor allem auf die deutsche und europäische Öffentlichkeit zielen: Was zählt, ist der Eindruck, dass etwas getan wird.

"Die zunehmende Verletzung grundlegender Menschenrechte in Ägypten hat die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht davon abgehalten, bilaterale Kooperationen einzugehen, Grenzschutz zu finanzieren, Menschen zwangsweise abzuschieben und über Programme zur Freiwilligen Rückkehr rückzuführen."

Muhammad Al Kashef, Menschenrechtsanwalt.